Vereinbarkeit von Familie und Beruf: Freie Wahl, Kompromiss oder Aufopferung?

Familienentscheidungen unterliegen starken äusseren Zwängen – bei der Aufteilung von unbezahlter Sorgearbeit und Erwerbsarbeit sind die Wahlmöglichkeiten begrenzt. Einen Ausweg aus diesem Dilemma bietet ein reform-orientiertes familienpolitisches Kompromissmodell.
Ingela K. Naumann
  |  05. Dezember 2023
    Forschung und Statistik
  • Familie
Wer kocht morgen? Die Aufgabenteilung in einer Familie unterliegt vielfach äusseren Zwängen. (Keystone)

Auf einen Blick

  • Gesellschaftliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen spielen bei der Aufteilung der Sorge- und Erwerbsarbeit in den Familien eine zentrale Rolle.
  • Die Bedürfnisse und Interessen der Familienmitglieder kommen häufig zu kurz.
  • Ein familienpolitisches Kompromissmodell soll Familien dabei helfen, eine bessere Balance zu finden zwischen familiärer Sorgearbeit und Erwerbsarbeit.

«Wahlfreiheit» ist ein hohes politisches Gut in pluralistischen und demokratisch verfassten Gesellschaften wie der Schweiz. Auch in der Familienpolitik wird Wahlfreiheit häufig als Lösung propagiert: Familien sollen selber entscheiden können, wie sie sich die familiäre Sorgearbeit und Erwerbsarbeit aufteilen. Dabei wird aber häufig übersehen, dass die Realität von Familien meist nicht von einer grossen Bandbreite an Wahlmöglichkeiten geprägt ist. Vielmehr unterliegen Familienentscheidungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf häufig starken äusseren Zwängen und Herausforderungen, wie beispielsweise:

  • der Notwendigkeit, die Familie finanziell abzusichern;
  • den Anforderungen des Arbeitsmarktes;
  • dem Vorhandensein (oder Fehlen) von bezahlbaren Kinderbetreuungsalternativen;
  • der logistischen Komplexität, Arbeitszeiten und Pendelwege mit Schul-, Kinderbetreuungs- und andere Öffnungszeiten zu koordinieren.

Für die meisten Familien stellt sich die Vereinbarkeit von Familie und Beruf daher als eine Reihe von Kompromissen dar oder mündet gar in der Aufopferung grundlegender Bedürfnisse und Interessen, zum Beispiel der Aufgabe des Berufs.

Es sind vor allem die Mütter, die Kompromisse oder Opfer in Kauf nehmen hinsichtlich ihrer Berufsorientierung oder bezüglich persönlicher Erholungszeiten bei Doppelbelastungen von Beruf und Familienverpflichtungen. Manche opfern sogar ihren Kinderwunsch und bleiben kinderlos, da sie keine Möglichkeit sehen, Familie und Beruf unter einen Hut zu kriegen. Aber es sind manchmal auch die Kinder, die Opfer erbringen müssen – etwa, wenn lange Arbeitstage oder unregelmässige Arbeitszeiten der Eltern zu unsicheren oder anstrengenden Betreuungssituationen für die Kinder führen oder wenn den Kindern aus Kostengründen die Teilnahme an frühkindlichen Bildungsangeboten verwehrt bleibt.

Auswirkungen auf Wohlbefinden

Obschon die Aufopferung persönlicher Bedürfnisse und Interessen meist aus guter Absicht und für die Kinder und den Partner gemacht werden, bergen sie das Risiko, sich negativ auf Wohlbefinden und Gesundheit anderer Familienmitglieder auszuwirken. Jüngere Forschung hat gezeigt, dass eine Reduktion des Wohlbefindens und der mentalen Gesundheit von Müttern aufgrund von Aufopferungshandlungen auch das Wohlbefinden der Kinder negativ beeinflusst (Naumann et al. 2022). So kann die Aufgabe des Berufs zu finanziellen Nöten und Kinderarmut führen – mit negativen Langzeitfolgen für die Kinder. Aus familienpolitischer Sicht sind familiäre «Aufopferungsszenarien» daher zu vermeiden: Sie haben nicht nur negative Auswirkungen auf das Familienwohl, sie verursachen auch gesellschaftliche Folgekosten.

Mit Blick auf diese Problematik schlage ich ein neues sozialpolitisches Analyseinstrumentarium vor, welches hilft zu eruieren, ob und wann es sich bei Familienentscheidungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf um «Wahlfreiheit», «Kompromiss» oder «Aufopferung» handelt (Naumann 2023). Ziel ist es, die schweizerische Familienpolitik für die vielfältigen «trade-offs» zu sensibilisieren, welche Familien in ihrem Leben machen (müssen), um familiäre Sorgeverantwortungen, Berufsorientierung und finanzielle Absicherung zu balancieren. Im Zentrum der vielfältigen Entscheidungsdilemmata von Familien steht dabei ein Strukturproblem moderner Gesellschaften: der Konflikt, nicht gleichzeitig bezahlte produktive und unbezahlte reproduktive Sorgearbeit leisten zu können. Diese Spannung zwischen produktiver und reproduktiver Arbeit kann von Familien nur bedingt gelöst werden. Hier bedarf es deshalb sozialpolitischer Massnahmen.

Das Wahlfreiheitsmodell

Aufbauend auf diesen Überlegungen möchte ich zwei unterschiedliche familienpolitische Modelle in die sozialpolitische Debatte einbringen, welche darauf abzielen, Familiendilemmata zu entspannen und strukturelle Ungleichheiten zu vermeiden.

Zunächst das Wahlfreiheitsmodell: Dieses zeigt auf, welche sozialpolitischen Grundlagen geschaffen werden müssten, damit alle Gesellschaftsmitglieder eine «echte» Wahl haben darüber, wieviel Zeit sie der Familienarbeit respektive der Erwerbsarbeit widmen, ohne dass es dadurch zu systematischen Benachteiligungen kommt, zum Beispiel bezüglich Rentenleistungen.

Ein solches Modell, das echte Wahlfreiheit bietet, stellt die unbezahlte Sorgearbeit mit bezahlter Erwerbsarbeit gleich. Somit müsste einerseits ein universelles familienorientiertes Grundeinkommen bereitgestellt werden für alle nichterwerbstätigen Gesellschaftsmitglieder, die unbezahlte Sorgearbeit leisten; gleichzeitig müsste ein universelles, bezahlbares und hochqualitatives Ganztagesangebot an Bildungs- und Betreuungsdienstleistungen für Kinder geschaffen werden, um die freie Wahl auch «für» Erwerbsarbeit aller Eltern zu gewährleisten.

Volle Wahlfreiheit würde somit einen radikalen Umbau des schweizerischen Sozialstaates erfordern, sowohl hinsichtlich der finanziellen Grundsicherung von Nichterwerbstätigen als auch der Unterstützung von Erwerbstätigen mit Familienverpflichtungen, was allerdings gesellschaftspolitisch eher schwierig umzusetzen wäre.

Das Kompromissmodell

Als Alternative empfehle ich ein reform-orientiertes Kompromissmodell, welches sich an den Prinzipien der Arbeitsgesellschaft ausrichtet und die enge Verknüpfung des Sozialversicherungssystems mit Erwerbsarbeit berücksichtigt. Dieses Modell mutet Familienverbänden gewisse, zeitlich begrenzte Kompromisse zu (wie etwa eine Arbeitszeitreduktion), beugt jedoch «Aufopferungsszenarien» mit negativen Langzeitfolgen für Individuum und Gesellschaft vor. Zentrale familienpolitische Eckpunkte für das Kompromissmodell sind:

  • eine 12-monatige bezahlte Elternzeit, damit nicht bereits vier Monate alte Säuglinge (nach Ende des Mutterschaftsurlaubes) zum Erhalt der Berufstätigkeit der Eltern in eine Kita gebracht werden müssen;
  • ein Rechtsanspruch der Eltern auf ganztägig verfügbare Bildungs- und Betreuungsdienstleistungen für Kinder ab dem ersten Lebensjahr, um einen nahtlosen Übergang zwischen Elternzeit und Kinderbetreuung zu gewährleisten und somit Arbeitskontinuität für Eltern zu ermöglichen;
  • ein gesetzlicher Anspruch auf Teilzeitarbeit (70%), gleichzeitig für beide Elternteile bis zum achten Lebensjahr des Kindes, um Doppelbelastungen und Erschöpfung erwerbstätiger Eltern und lange «Kita-Tage» für Kinder zu vermeiden, um mehr Zeit für die Bewältigung der Familienlogistik und um Familienfreizeit und -erholung zu ermöglichen. Der Teilzeit-Anspruch sollte dabei paritätisch für Mütter wie Väter gelten, um geschlechtsspezifische Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt zu vermeiden. Grossangelegte Langzeitexperimente mit der Viertagewoche in Grossbritannien haben gezeigt, dass verkürzte Arbeitszeit für Firmen nicht zu Produktivitätsverlusten führen und zudem Krankheitsausfälle von Arbeitnehmenden reduzieren (Ellerbeck 2023).
  • eine zweistufige Kindergrundsicherung, zusammengesetzt aus universeller Kinderzulage plus einkommensabhängiger Zusatzleistungen (welche es in manchen Kantonen als Familienergänzungsleistungen bereits gibt), um sicherzustellen, dass auch Alleinerziehende und einkommensschwache Familien die 70-Prozent-Teilzeitregelung ohne Armutsrisiko für die Familien in Anspruch nehmen können.

Dieses familienpolitische Paket könnte schweizerischen Familien in der Zukunft eine bessere Balance zwischen Familienleben und Erwerbsarbeit ermöglichen, dabei die Gesellschaft durch lebenswichtige reproduktive Arbeit stützen und gleichsam den Wirtschaftsstandort Schweiz stärken.

 

Dieser Text basiert auf dem Beitrag von Ingela Naumann «Wahlfreiheit, Kompromiss und Aufopferung — Neue Perspektiven für die Familienpolitik in der Schweiz», der am 5. Dezember in der EKFF-Sammelpublikation Familien und Familienpolitik in der Schweiz — Herausforderungen im Jahr 2040 erschienen ist.

Literaturverzeichnis

Ellerbeck, Stefan (2023). The world’s biggest trial of the four-day week have come to an end: here are the results, Forum Agenda, 10 March 2023, World Economic Forum.

Naumann, Ingela K. et al. (2022). Child and Parental Wellbeing during the Covid-Pandemic, Working Paper 1, 2022, UKRI Covid-19 rapid response project Childcare and Wellbeing in Times of Covid-19, Edinburgh University, Edinburgh.

Naumann, Ingela K. (2023). Familienleben zwischen Wahlfreiheit, Kompromiss und Aufopferung: Neue Perspektiven für die schweizerische Familienpolitik. Zur «Familienpolitik in der Schweiz – Herausforderungen im Jahr 2040», EKFF.

 

Professorin für Sozialpolitik, Sozialarbeit und Soziologie, Universität Freiburg
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