Warum gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede auf dem Arbeitsmarkt?

Mit dem Nobelpreis von Claudia Goldin anerkennt auch die Mainstream-Ökonomie die Bedeutung der Forschung zu Geschlechtergerechtigkeit. Eine wichtige Rolle spielen kulturelle Normen, wie ein neues Buch der US-Wirtschaftsjournalistin Josie Cox zeigt.
Josie Cox
  |  29. Februar 2024
    Meinung
  • Chancengerechtigkeit
  • Familie
US-Ökonomin Claudia Goldin im Dezember 2023 im Nobelmuseum in Stockholm. (Alamy)

Auf einen Blick

  • Das Werk der Nobelpreisträgerin Claudia Goldin hat der Forschung zur Arbeitsmarktbeteiligung der Geschlechter Schwung verliehen.
  • Die Gründung einer Familie ist der prägendste Einschnitt in die Erwerbsbiografie von Frauen.
  • Aufgrund von kulturellen Normen wird Kinderbetreuung auch heute noch verbreitet als Frauensache betrachtet.

Das moderne Wirtschaftsdenken hat sich stark weiterentwickelt, seit Adam Smith in «The Wealth of Nations» 1776 erstmals Land, Arbeit und Kapital als Faktoren identifizierte, die zum kollektiven Wohlstand beitragen. In den fast 250 Jahren, die seitdem vergangen sind, haben Ökonomen wie Thomas Malthus, David Ricardo, John Stuart Mill, Karl Marx und John Maynard Keynes unser Verständnis geprägt, wie Geldflüsse und die damit verbundene Macht unser Leben beeinflussen.

Wir haben Fortschritte erzielt und beispielsweise verstanden, dass die Schaffung echten Wohlstands nicht zulasten der Umwelt gehen darf. In einem Bereich allerdings hinkt unser Verständnis von Wirtschaft hinterher und hat wohl gar versagt:  bei der Geschlechtergerechtigkeit. 

Die Mainstream-Ökonomie hat dem Lohngefälle sowie der unterschiedlichen Erwerbsbeteiligung von Männern und Frauen historisch betrachtet wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Noch weniger Beachtung fanden die unbezahlte Arbeit und die Tatsache, dass Frauen weltweit immer noch einen grossen Teil der Betreuungsarbeit leisten. So berücksichtigen ökonomische Messgrössen wie Produktivität oder Bruttoinlandprodukt Care-Arbeit nicht.

Im Nachgang zur Corona-Pandemie – während der sich Geschlechterrollen tendenziell verfestigten – gibt es in den Wirtschaftswissenschaften Anzeichen für einen Wandel. Und diese Entwicklung ist vielleicht die bisher bedeutendste und wichtigste dieser Disziplin.

Anerkennung für Goldins Forschung

Im Oktober 2023 wurde Claudia Goldin, Professorin für Arbeitsmarktökonomie an der Harvard–Universität, mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet. Nach Elinor Ostrom im Jahr 2009 und Esther Duflo 2019 ist Goldin die dritte Frau, die den Preis erhält, bisher aber die erste, die allein geehrt wird. Die Arbeitsmarktökonomin und Wirtschaftshistorikerin stellt in ihrem Werk folgende Fragen ins Zentrum: Warum gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede auf dem Arbeitsmarkt? Inwiefern sind die historischen Schwankungen in der Erwerbsbeteiligung von Frauen durch soziale, kulturelle, politische und wirtschaftliche Faktoren beeinflusst?

Anhand von US-Daten über eine Zeitspanne von 200 Jahren zeigt Goldin auf, wie und warum sich die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei Einkommen und Erwerbsquoten im Laufe der Zeit veränderten. Am bemerkenswertesten ist vielleicht die Feststellung Goldins, dass die Erwerbsbeteiligung von Frauen in den letzten zwei Jahrhunderten nicht linear zugenommen hat. Stattdessen folgt die Erwerbsbeteiligung der Frauen in den USA einer U-förmigen Kurve, geprägt durch den Wandel der Wirtschaft von Agrar- zu Industriegesellschaft und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zur Dienstleistungsökonomie. 

Goldin hat zudem aufgezeigt, wie ein höheres Bildungsniveau sowie die Antibabypille das Einkommenspotenzial von Frauen verbessert hat und es ihnen ermöglicht, einer bezahlten Arbeit ausserhalb des eigenen Haushalts nachzugehen. Die Ökonomin stellt aber auch fest, dass trotz alledem irgendetwas die Frauen von der Beteiligung am Arbeitsmarkt abhält. So haben sich die geschlechtsspezifischen Einkommensunterschiede in den USA über die letzten Jahrzehnte kaum verändert.

Der Hauptgrund ist die Geburt eines Kindes. Gesellschaftliche und kulturelle Normen sorgen dafür, dass die Kinderbetreuung bei heterosexuellen Paaren nach wie vor häufig als Frauensache gilt. Zumeist sind es immer noch die Frauen, die sich ganz oder teilweise aus dem Arbeitsmarkt zurückziehen, wenn sie und ihr Partner eine Familie gründen.

Kulturelle Normen als Knackpunkt

Die Forschung von Claudia Goldin bildet eine wichtige Grundlage für mein neues Buch «Women, Money, Power». Darin werfe ich ein Schlaglicht auf die wirtschaftliche Emanzipation von Frauen in den USA seit dem Zweiten Weltkrieg (siehe Kasten). Die Vereinigten Staaten werden gemeinhin als Land der unbegrenzten Möglichkeiten bezeichnet. Es wäre aber wohl passender, sie als Land der Chancen und Möglichkeiten für eine konkrete Kategorie von Menschen zu bezeichnen, die in der Regel männlich und meist weiss sind.

Anhand von Frauenprofilen beleuchte ich die bereits erzielten Fortschritte und würdige die oft vergessenen Personen, die unermüdlich für die Gleichstellung der Geschlechter gekämpft haben, deren Bemühungen aber selten angemessen anerkannt werden. Parallel dazu gehe ich der Frage nach, warum wir es immer noch nicht zustande gebracht haben, gleiche Bedingungen für alle zu schaffen; warum der systemische Sexismus weiterhin so viele Organisationen in so vielen Ländern durchdringt – in den USA, aber auch in der Schweiz.

Das fehlende Element ist oft die Kultur. Diese Erkenntnis leite ich aus wissenschaftlichen Arbeiten und Interviews ab, die ich mit Expertinnen und Experten, mit Geschäftsleuten, Rechtsgelehrten sowie Historikerinnen und Historikern geführt habe.

Auf dem Papier haben Frauen und Männer eine nahezu perfekte Gleichstellung erreicht: Eine Frau kann nicht mehr entlassen werden, weil sie schwanger ist oder heiratet. Für gleichwertige Arbeit haben Frauen heute Anspruch auf den gleichen Lohn wie Männer. Frauen werden aufgrund ihres Geschlechts keine Kredite mehr verwehrt; sie können wählen, ein Unternehmen leiten, einer obersten Gerichtsinstanz vorstehen, ein Land regieren und fast jede Arbeit verrichten, die auch ein Mann ausüben kann.

Nur: Papier ist geduldig – und die Realität ist komplexer. Kulturelle Normen und Stereotypen haben grosse Wirkung und es ist extrem schwierig, sie zu verändern. Kommt hinzu: Vorlieben und Vorurteile lassen sich nur schwer feststellen, quantifizieren und nachweisen.

Wann kommt die Wende?

Dass Kinderbetreuung immer noch häufig als Frauensache angesehen wird hat somit kulturelle Gründe. Genauso wie die Tatsache, dass es die politischen Entscheidungsträger – die weltweit nach wie vor überwiegend männlich sind – weitgehend versäumt haben, für eine angemessene, bezahlbare Kinderbetreuung zu sorgen. Entsprechend übernehmen Mütter weiterhin den Grossteil der Betreuungsaufgaben, was wiederum die bereits bestehenden Einkommensunterschiede zementiert. 

Die Aussichten auf konkreten Wandel lassen einen bisweilen pessimistisch stimmen. Während der Recherchen zu meinem Buch und beim Schreiben, insbesondere als die reproduktiven Rechte in Amerika unter heftigen Beschuss gerieten, machte sich bei mir in der Tat grosse Hoffnungslosigkeit breit. Aber Claudia Goldins Nobelpreis könnte durchaus eine stille Wende bedeuten. Der Nobelpreis ist zweifelsohne eine der prestigeträchtigsten und bekanntesten Auszeichnungen in der akademischen Welt. Er bestimmt die Tagesordnung.

Mit der Auszeichnung von Goldin für ihre Arbeit zu einem Thema, das traditionell bestenfalls am Rande behandelt, häufiger aber völlig ausser Acht gelassen wurde, sendet die Akademie eine klare Botschaft: Die Rolle der Frauen in der Ökonomie ist ab sofort ein zentraler Bestandteil der Mainstream-Ökonomie, und wir können nicht weiter so tun, als wäre dem nicht so.

Women Money Power

Im Buch «Women Money Power: The Rise and Fall of Economic Equality» erzählt Wirtschaftsjournalistin Josie Cox die Geschichte des Kampfes der Frauen für Freiheit und wirtschaftliche Gleichheit. Die 34-jährige Britisch-Schweizerin hat ihre Kindheit in den Kantonen Solothurn und Basel-Stadt verbracht. Sie lebt und arbeitet in New York.

Josie Cox (2024). Women Money Power: The Rise and Fall of Economic Equality, Abrams. Ab 5. März im Buchhandel erhältlich.

Wirtschaftsjournalistin und Autorin, New York
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