«Alle Erwerbstätigen müssen sich ausreichend versichern können»

Ein Unfall oder eine Krankheit kann Selbstständige empfindlich treffen. Die emeritierte Rechtsprofessorin Gabriela Riemer-Kafka schlägt deshalb vor, dass auch Selbstständige obligatorisch eine zweite Säule haben und gegen Unfall versichert sein müssen.
Stefan Sonderegger
  |  25. April 2024
    Interview
  • Selbstständige
«International tätige Plattformbetreiber sind als Arbeitgeber nicht greifbar»: Gabriela Riemer-Kafka. (Foto: BSV / Marcel Giebisch)

Frau Riemer-Kafka, welche Lehren ziehen Sie aus der Corona-Pandemie hinsichtlich der Selbstständigen?

Die Pandemie war wie ein Brennglas. Sie zeigte, dass viele Selbstständige nur über geringe finanzielle Reserven verfügen. Bei einigen reichten diese gerade mal drei Monate. Ein unvorhergesehenes Ereignis – wie eine Krankheit oder ein Unfall – trifft Selbstständige also empfindlich. Selbstständige befinden sich heute im Vergleich zu früher wohl häufiger in einer prekären Situation: Die Sozialversicherungen waren bis in die 1980er-Jahre liberal geprägt. Früher verfügten viele Selbstständige in der Regel über genügend Kapital, eine Berufsbildung und waren sozial über ihre Familien abgesichert. Typischerweise waren dies etwa Unternehmer, Ärzte, Anwälte, Architekten oder Handel- und Gewerbetreibende. Heute ist das nicht mehr immer so: Es gibt Selbstständige, die nur minimal ausgebildet sind, das Geld ist knapp, und die familiäre Absicherung fehlt.

Während der Pandemie hat der Bundesrat innert kürzester Zeit Unterstützungsmassnahmen für Selbstständigerwerbende geschaffen. Haben sich diese bewährt?

Als Sofortmassnahme war dies das Beste, was der Bundesrat tun konnte. Gleichzeitig zeigte sich, wie nötig eine bessere soziale Absicherung von Selbstständigen wäre.

Besonders stark betroffen waren Dienstleistungsbranchen wie das Coiffeurgewerbe, in denen viele Frauen arbeiten.

Das Coiffeurgewerbe ist ein typisches Beispiel für eine Branche, in der die meist jungen Frauen zunächst als Angestellte arbeiten und sich dann selbstständig machen, um ihr Einkommen zu verbessern. Ein Pendant dazu sind Nail- und Kosmetikstudios, wo ebenfalls viele Frauen mit einem tieferen Bildungsniveau oder Migrationshintergrund arbeiten. Viele Arbeitssuchende flüchten sich in die Selbstständigkeit – entweder weil sie keine Anstellung finden oder weil Arbeitsdruck und Arbeitsplatzunsicherheit zugenommen haben.

«Viele Arbeitssuchende flüchten sich in die Selbstständigkeit»

Die Abgrenzung zwischen «selbstständig» und «unselbstständig» wird im digitalen Zeitalter immer schwieriger. Warum?

Die Abgrenzungskriterien der Rechtsprechung zu Arbeitsort, -zeit und -instrumenten stammen aus einer Zeit, als man zu einem hohen Prozentsatz in der Industrie, im Gewerbe oder in der Landwirtschaft arbeitete. Diese Kriterien verfangen für den heute dominierenden Dienstleistungssektor, der eine Flexibilisierung von Ort und Zeit erlaubt, nicht mehr uneingeschränkt. Als Arbeitsinstrument genügt heute vielfach ein Computer oder ein Handy. Die Digitalisierung ist insofern ein massgebender Treiber für den Gang in die Selbstständigkeit. Als rechtliche Abgrenzungskriterien verbleiben meines Erachtens nur noch die Weisungsgebundenheit, die Kontrolle und allenfalls das unternehmerische Risiko. Gerade bei Plattformarbeit ist es schwierig, zu erkennen, ob die Kriterien für ein Angestelltenverhältnis sprechen. Es besteht also eine Rechtsunsicherheit.

Plattformen wie Uber und Airbnb werden von ausländischen Unternehmen betrieben. Inwiefern ist das eine Herausforderung?

Das ist ein grosses Problem. Diese international tätigen Plattformbetreiber sind als Arbeitgeber nicht greifbar. Sie entweichen wortwörtlich in die Wolken – in die Cloud. Denn das Arbeitsrecht ist national geregelt und richtet sich nach dem Arbeitsort. Jemand, der in der Schweiz seine Dienste auf einer Plattform anbietet, kann seine Rechte gegenüber einer Plattformbetreiberin kaum durchsetzen. So wird die ausländische Plattformbetreiberin dieser Person vermutlich kaum je den Arbeitgeberbeitrag in der ersten Säule zurückerstatten und sich vielmehr auf den Standpunkt stellen, es handle sich um selbstständige Arbeit.

Hat die Plattformarbeit auch positive Seiten?

Ja, durchaus: Das mobile und flexible Arbeiten ist gerade für Personen mit Betreuungsaufgaben, Individualisten und Menschen mit Leistungseinschränkungen eine Chance.

Sie schlagen vor, den Status «selbstständig» und «unselbstständig» abzuschaffen.

Ja, denn die Rechtsprechung ist diesbezüglich inkonsistent. So hat sich das Bundesgericht beispielsweise kürzlich mit dem Fall einer Fotografin befasst, die 15 Prozent ihres Gesamtumsatzes aus einem fixen Auftragsverhältnis erzielt. Das Gericht entschied, dass keine wirtschaftliche Abhängigkeit bestehe und daher selbstständige Erwerbstätigkeit vorliege. Das scheint mir problematisch: Man sollte nicht anhand eines Umsatzprozentsatzes messen, ob es sich um eine selbstständige oder eine unselbstständige Tätigkeit handelt. Die Plattformarbeit hat viele solcher Mikrojobs geschaffen – die demnach womöglich dann alle als selbstständige Erwerbstätigkeit einzustufen wären. Angesichts solcher Widersprüchlichkeiten wäre es zielführender, nur noch den Status «erwerbstätig» zu führen. Das hätte natürlich zur Folge, dass die Sozialversicherungsbeiträge anders erhoben werden müssten – beispielsweise über eine dual finanzierte Sozialsteuer, die beim Steuerpflichtigen erhoben würde. Mir ist aber bewusst, dass diese Vorschläge realpolitisch schwierig umzusetzen sind.

Was können Selbstständige heute tun, um ihren sozialen Schutz zu verbessern?

Sie haben drei Möglichkeiten: Erstens, sie gründen eine Ein-Personen-AG oder eine GmbH und stellen sich selber an. Zweitens, sie suchen sich einen zweiten Job als Angestellte; dies ist gerade bei Bäuerinnen, die auf dem Betrieb des Ehemanns mitarbeiten, häufig der Fall. Oder drittens, Selbstständige wählen den rechtlich heiklen Weg der sogenannten Lohnträgerschaft – sprich, sie lassen sich pro forma bei einem Unternehmen anstellen.

Die Musikerin Cégiu, die einen Beitrag in der CHSS verfasst hat, empfiehlt selbstständigen Kunstschaffenden, eine GmbH zu gründen, um den sozialen Schutz zu verbessern. Stimmen Sie ihr zu?

Mit dem heutigen System auf jeden Fall. Aber es ist schon fragwürdig, dass man eigens eine kapitalbasierte Gesellschaft gründen muss, nur damit man sozial genügend abgesichert ist. Der Aufwand scheint mir unverhältnismässig, und vielen fehlt das nötige Gründungskapital.

«Selbstständige verfügen meist über keine ausreichende Altersvorsorge in der beruflichen Vorsorge»

Wo bestehen heute konkret Lücken in der sozialen Absicherung von Selbstständigen?

Selbstständige verfügen meist über keine ausreichende Altersvorsorge in der beruflichen Vorsorge – aber auch in der Säule 3a. Weiter sind sie im Gegensatz zu den Angestellten nicht obligatorisch der Unfallversicherung unterstellt. Ältere oder gesundheitlich angeschlagene Selbstständige, die sich gerne versichern möchten, zahlen heute entweder hohe Prämien oder finden gar keine Versicherung. Diese Risikoselektion der Versicherer muss aufhören. Alle Erwerbstätigen müssen sich ausreichend versichern können. Schliesslich braucht es auch eine obligatorische Krankentaggeldversicherung für alle Erwerbstätigen. Eine gewisse Missbrauchsgefahr ist hier zwar bei Selbstständigen nicht von der Hand zu weisen. Doch ich bin der Meinung, das könnte man mit diversen Kontrollmassnahmen in den Griff kriegen.

Wie sieht es bei der Arbeitslosenversicherung aus? Müsste diese auch auf Selbstständige ausgeweitet werden?

Die Arbeitslosenversicherung kann nicht eins zu eins auf Selbstständige ausgeweitet werden – die Missbrauchsgefahr, unternehmerische Risiken zu versichern, wäre zu gross. Das hat die Corona-Pandemie leider auch gezeigt. Ich könnte mir aber vorstellen, dass Selbstständige beispielsweise bei Naturkatastrophen oder bei einer Pandemie Kurzarbeit anmelden können und für Schlechtwetter entschädigt werden. So könnte die Missbrauchsgefahr begrenzt werden.

Wie könnte man die soziale Absicherung von Selbstständigen verbessern?

Die fairste Lösung wäre ein Obligatorium in der beruflichen Vorsorge sowie in der Unfallversicherung für alle Erwerbstätigen. Es schafft gleich lange Spiesse für alle. Bei den Familienzulagen sowie der Mutterschafts- und der Vaterschaftsentschädigung ist dies ja bereits der Standard. Bei den Sozialversicherungsbeiträgen, die Selbstständige dann ja allein berappen müssten, brauchte es wohl eine einkommensabhängige Entlastung – analog der sinkenden Beitragsskala in der ersten Säule.

Viele Selbstständige wollen sich gar nicht versichern – und auch Parlament und Bundesrat haben sich mehrfach dagegen ausgesprochen.

Ja, das ist leider der Haken an der Sache. Das bürgerliche Lager möchte die Sozialabgaben so tief wie möglich halten, um die Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen nicht zu gefährden, und die Linken haben die Selbstständigen nicht im Fokus. Vielleicht ändert sich dies ja nun mit der zunehmenden Verbreitung der Plattformarbeit und den sozial prekären Verhältnissen zahlreicher Selbstständiger. Dass viele Selbstständige ihre soziale Absicherung vernachlässigen, hat möglicherweise auch mit der gut ausgebauten Grundversorgung zu tun: Wenn alle Stricke reissen, dann besteht mit der Sozialhilfe und den Ergänzungsleistungen ein soziales Auffangnetz. Unser gut ausgebautes System birgt leider gewisse Anreize, dass manche die in der Verfassung festgeschriebene Eigenverantwortung vernachlässigen.

«Plattformarbeit lädt quasi zur Schwarzarbeit ein»

In Branchen wie der Reinigung oder der Gastronomie ist Schwarzarbeit verbreitet – in der Folge werden auch keine Sozialversicherungsbeiträge geleistet.

Nicht nur dort, auch im Gewerbe und in der Landwirtschaft besteht dieses Problem. Und Plattformarbeit lädt quasi zur Schwarzarbeit ein, da ein Arbeitgeber im engeren Sinn fehlt, den man kontrollieren könnte.

Was ist zu tun?

Plattformen und ihre Dienstleister sollten direkt über die Website mit den Ausgleichskassen verknüpft sein.

Unser Sozialversicherungssystem ist komplex – für viele Selbstständige ist es schwierig, den Überblick zu behalten.

Ja, das stimmt. Ich habe schon von Selbstständigen gehört, die ihren Laden wieder geschlossen haben, weil sie von der Abrechnung mit Versicherungen und Behörden überfordert waren. Eine grosse Chance stellt die Digitalisierung dar, mit der die Abrechnung mit den diversen Versicherungszweigen zusammengeführt werden könnte.

Gabriela Riemer-Kafka

Bis 2017 hatte Gabriela Riemer-Kafka den Lehrstuhl für Sozialversicherungs- und Arbeitsrecht an der Universität Luzern inne. Danach war sie dort bis 2022 als Lehrbeauftragte tätig. Sie ist 66 Jahre alt und lebt in Zürich.

Chefredaktor, Soziale Sicherheit (CHSS)
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