Auf einen Blick
- Formvorschriften wie «Schriftlichkeit» lassen sich nicht generell auf elektronische Pendants übertragen.
- Digitalisierung geht über einzelne elektronische Vorgänge hinaus und umfasst ganze Prozesse.
- Der Bund schafft mit dem Projekt «Dikos» die rechtlichen Grundlagen für die Digitalisierung der ersten Säule.
Als die Sozialversicherungen ab Mitte des 20. Jahrhunderts geschaffen wurden, existierte das Wort Digitalisierung im schweizerischen Sprachgebrauch noch nicht. Damals zahlte der Pöstler die AHV-Rente gegen Unterschrift in bar aus.
Tempi passati? Ja – zumindest teilweise. Die Renten werden heute auf ein Bank- oder Postkonto ausbezahlt, viele Informationen sind im Internet verfügbar und die AHV-Ausgleichskassen und IV-Stellen auch online erreichbar.
Allerdings: Als Konsumentin bin ich es heute gewohnt, dass ich alles vom Bürotisch aus – oder sogar von irgendwo auf der Welt – mit meinem Smartphone in der Hand erledigen kann. Egal ob Lebensmittel kaufen, Konzerttickets bestellen oder Zahlungen auslösen. Es ist nichts anderes als logisch, dass ich auch als versicherte Person erwarte, mit Behörden auf die gleiche Weise verkehren zu können. Die digitale Welt dreht sich immer schneller und mitunter fühlt es sich heute schon wie aus der Zeit gefallen oder fast absurd an, wenn ich ein Papierformular von Hand unterzeichnen oder sogar persönlich bei einer Behörde vorstellig werden muss.
Schriftlichkeit als Knacknuss
Den Sozialversicherungsbehörden ist diese Entwicklung nicht verborgen geblieben. Auch sie bieten mittlerweile gewisse Dienstleistungen, zum Beispiel Formulare, elektronisch an. Dabei kommt unweigerlich die Frage auf, ob, und – wenn ja – wie ein Formular, das bis anhin auf Papier immer handschriftlich unterschrieben wurde, unterzeichnet werden muss. Kann ich dazu einfach meine handschriftliche Unterschrift einscannen oder brauche ich eine elektronische Signatur, vielleicht sogar eine qualifizierte elektronische Signatur? Oder brauche ich es überhaupt nicht zu unterzeichnen? Die Frage, ob ein Formular unterschrieben sein muss, hat sich im Papierverkehr kaum jemand gestellt. Ebenso wenig, was der Sinn und Zweck der Unterschrift ist.
Ein Blick ins Gesetz hilft oft auch nicht weiter, denn dort steht nur selten, dass ein Dokument mit einer Unterschrift versehen sein muss. Meist steht einfach, dass etwas «schriftlich» sein muss. Im Unterschied zum Privatrecht, in welchem dieser Begriff klar definiert ist, ist die Sache im öffentlichen Recht etwas komplizierter. Ob mit schriftlich nur das Gegenteil von mündlich gemeint ist, oder ob diese Formvorschrift mehr verlangt, kann nicht generell gesagt werden. Das Bundesgericht hielt dazu fest, dass unter Schriftlichkeit «gemäss dem alltäglichen Sprachgebrauch die Überlieferung des Textes auf Papier zu verstehen» ist.
Schriftlichkeit so verstanden, löst viele rechtliche Probleme: Ein Schreiben in einem verschlossenen Couvert durch die Post als vertrauenswürdigen Übermittler wahrt die Vertraulichkeit während des Transports. Mit der Unterschrift kann die Integrität des Dokuments bestätigt werden, da nachträgliche Manipulationen am Papierdokument einfach festgestellt werden können. Ebenso kann mit der Unterschrift auch der Absender des Dokuments authentifiziert werden. Für den «analogen» Schriftverkehr haben wir also mit dem Begriff «schriftlich» gleich drei Fliegen auf einen Streich geschlagen und damit eine ziemlich universelle Regelung.
Elektronische Identifizierung nötig
Aber ist der Begriff universell genug, um auch die digitale Kommunikation zu regeln? – Jein! Ja, weil er die elektronische Kommunikation nicht per se ausschliesst. Nein, weil es kein elektronisches Pendant gibt, welches alle drei Funktionen in sich vereint und somit ein Papierdokument 1:1 ersetzen kann. Meistens wollte der Gesetzgeber aber wohl auch nicht alle Funktionen abdecken.
Einzelne Funktionen kann man natürlich sehr wohl mit einem «elektronischen Pendant» ersetzen: die handschriftliche Unterschrift mit der qualifizierten elektronischen Signatur (nach dem Bundesgesetz über die elektronische Signatur, ZertES), den sicheren Übertragungsweg mit einer verschlüsselten E-Mail. Mit diesen Instrumenten konnten auch schon in Vergangenheit im Zivil- und Strafprozess elektronische Eingaben ans Gericht gemacht werden. Die Erfahrung zeigt aber, dass die meisten Privatpersonen weder über eine qualifizierte elektronische Signatur noch über eine verschlüsselte E-Mail verfügen. Auch die Authentifizierung der Versicherten gestaltete sich bis anhin schwierig, wenn dieser nicht Korrespondenzen per Briefpost vorangehen sollen. In Zukunft dürfte uns aber mit der elektronischen Identitätskarte (E-ID) ein wertvolles Instrument zur Authentifizierung der Versicherten zur Verfügung stehen.
Prozesse überdenken
Abgesehen davon, dass mit der Verwendung der oben beschriebenen Instrumente der elektronische Weg einem Grossteil der Versicherten verwehrt ist, sind diese Prozesse, insbesondere mangels maschinenlesbarer Daten, nach wie vor mit einem grossen manuellen und – aufgrund der dafür erforderlichen Personalressourcen – auch mit einem hohen finanziellen Aufwand verbunden. Den Digitalisierungsprinzipien «once only» und «digital first» kann damit ebenfalls nicht Rechnung getragen werden.
Zudem ist dieser Weg nicht selbsterklärend, weil die Versicherten selber wissen müssten, was beispielsweise eine qualifizierte elektronische Signatur und was eine verschlüsselte E-Mail ist und in welchen Fällen diese erforderlich sind.
Es ist deshalb nicht zielführend, einzelne Attribute, die im analogen Verkehr mit «schriftlich» erfüllt werden, wie beispielsweise die Authentifizierung einfach durch ein elektronisches Pendant wie der qualifizierten elektronischen Signatur zu ersetzen. Vielmehr müssen, ausgehend von einzelnen «use cases», die gesamten Prozesse neu gedacht werden und den Versicherten digitale Instrumente zur Verfügung gestellt werden, die klar und einfach verständlich sind und eine sichere Übermittlung von Daten und Dokumenten erlauben.
Rechtliche Grundlage schaffen
Selbstredend muss sichergestellt sein, dass die Versicherten die rechtlichen Vorgaben wie beispielsweise die Formvorschriften automatisch erfüllen, wenn sie den vorgegebenen digitalen Kanal wählen. Indem Prozesse und Informationssysteme mit der Gesetzgebung abgestimmt werden, lassen sich insbesondere auch die datenschutzrechtlichen Vorgaben erfüllen. Diese erfordern, dass Behörden eine rechtliche Grundlage für die von ihnen geführten Informationssysteme haben und dass für alle Bürgerinnen und Bürger transparent ist, welche Daten über sie darin vorhanden sind und wem diese zugänglich sind.
Für die erste Säule hat der Bund zu diesem Zweck das Gesetzgebungsprojekt «Digitale Kommunikation in den Sozialversicherungen» (Dikos) aufgegleist. Den Kern der Vorlage bildet eine zentrale Plattform, welche bei der Zentralen Ausgleichsstelle (ZAS) in Genf betrieben wird. Diese Plattform soll es erlauben, ihre Benutzerinnen und Benutzer zu authentifizieren und eine sichere und einfache Kommunikation, insbesondere zwischen den Versicherten und Behörden, aber auch zwischen Behörden und Dritten, die mit den Sozialversicherungen kommunizieren müssen, sicherstellen. Über die Plattform sollen sowohl unstrukturierte Dokumente zum Beispiel im PDF-Format als auch – je länger je mehr – strukturierte Daten übermittelt werden können. Mit der Übermittlung von strukturierten Daten müssen diese, dem «once-only-Prinzip» folgend, nur noch einmal eingegeben werden. Damit werden die Prozesse beschleunigt, Fehlerquellen beseitigt, die Effizienz der Versicherungsträger gesteigert, Kosten eingespart und den Komfort für die Versicherten erhöht.
Durch die Authentifizierung mittels sicherer, anerkannter und verbreiteter Authentifizierungstechnologien wie beispielsweise der E-ID ist der digitale Kanal auch für Versicherte nutzbar, die nicht regelmässig mit ihrer Sozialversicherung in Kontakt stehen. Zudem muss die versicherte Person auch nicht mehr wissen, bei welcher Ausgleichskasse sie versichert ist, sondern wird zur richtigen Stelle geroutet.
Hohe Priorität wird bei diesen Informationssystemen auch der Datensicherheit und dem Datenschutz eingeräumt. Durch professionelle Wartung und Weiterentwicklung der Informationssysteme auf dem aktuellen Stand der Technik wird die Integrität der übermittelten Daten und Dokumente bestmöglich sichergestellt.
Indem die Kommunikation über einen sicheren, vertrauenswürdigen Kanal – nämlich die Plattform – erfolgt, die Integrität der übermittelten Daten und Dokumente und die Authentifizierung der Benutzenden sichergestellt ist, werden die Attribute, welche dem Begriff «schriftlich» im Papierverkehr zukommen, mit diesen digitalen Kanälen erfüllt. Damit dürfte den Sozialversicherungen der ersten Säule der Weg in die digitale Zukunft geebnet sein, ohne dass denjenigen, die für die Kommunikation mit ihrer Sozialversicherung den Papierweg bevorzugen, dieser verwehrt wird.