«Die Zusammenarbeit in der Verwaltung hat sich fundamental verändert»

Im selben Gebäude, wo einst Albert Einstein seine Relativitätstheorie entwickelte, koordiniert heute Peppino Giarritta die Digitalisierung von Bund und Kantonen. Ähnlich wie Einsteins Theorie in der Physik habe die Digitalisierung einen Kulturschock in der Verwaltung ausgelöst, sagt er im Interview.
Stefan Sonderegger
  |  26. Juni 2023
    Interview
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«Wir dürfen niemanden zurücklassen»: Peppino Giarritta, Beauftragter von Bund und Kantonen für die Digitale Verwaltung Schweiz in seinem Büro (Foto: BSV / Marcel Giebisch)

Die Digitalisierung in der Verwaltung schreitet in der Schweiz nur langsam voran. Woran liegt das?

Das liegt unter anderem am Wesen der Verwaltung – für die Digitalisierung braucht es Rechtsgrundlagen. Im Vergleich zu einem privatwirtschaftlichen Unternehmen nehmen Bund, Kantone und Gemeinden in einem viel grösseren Ausmass unterschiedliche Aufgaben wahr. Das macht die Digitalisierung anspruchsvoller, und es bedingt eine gute Koordination zwischen den Staatsebenen. Und schliesslich kann die Verwaltung ihre Kundschaft nicht auswählen: Sie ist für alle da.

Braucht es auch einen Kulturwandel?

Ja, der Kulturwandel ist die Voraussetzung. Wir müssen wegkommen von Silodenken, sondern stärker zusammenarbeiten und die Nutzenden sowie die Daten stärker ins Zentrum stellen: Die Kundinnen und Kunden wollen ein umfassendes Angebot, das über einzelne Aufgabengrenzen hinweggeht und ihnen damit die Interaktion mit der Verwaltung vereinfacht. Die Digitalisierung ist daher nebst einer technologischen vor allem auch eine organisatorische Frage.

«Die Digitalisierung ist vor allem auch eine organisatorische Frage.»

Inwiefern ist der Föderalismus eine Herausforderung?

Der Föderalismus gehört zur Schweizer DNA – dem wollen wir Sorge tragen. Klar ginge es schneller, wenn man die Dinge zentral vorgeben könnte. Der Föderalismus hat aber auch Vorteile: Kantone und Gemeinden sind nahe an der Bevölkerung und können regionale Bedürfnisse besser berücksichtigen. Auch lassen sich mit dezentralen Lösungen die kantonal und kommunal unterschiedlichen Rechtsgrundlagen oft besser abbilden.

Der Föderalismus gilt manchmal als Testumgebung für neue Ideen.

Die föderale Schweiz ist ein Labor, wo neue Ansätze in einem überschaubaren Kontext entwickelt werden können. Innovative Konzepte lassen sich dann kopieren. Ein Beispiel ist der E-Umzug, den der Kanton Zürich vor sechs Jahren eingeführt hat. Inzwischen haben die meisten Kantone nachgezogen, wodurch die elektronische Umzugsmeldung über Kantonsgrenzen hinaus viel einfacher geworden ist. Der Dienst ist auch ein gutes Beispiel für den volkswirtschaftlichen Nutzen digitaler Lösungen: Bevölkerung und Verwaltung sparen Zeit, die sich sinnvoller einsetzen lässt als für den Weg an einen Schalter zu Bürozeiten.

Seit Anfang 2022 koordiniert die Digitale Verwaltung Schweiz die föderale Zusammenarbeit. Worauf legen Sie den Schwerpunkt?

Wir fokussieren in erster Linie auf dringend erforderliche Basisdienste wie etwa die elektronische Identität (E-ID).

Warum ist die E-ID so wichtig?

Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz sollen sich im Internet sicher identifizieren können. Dies ist bei gewissen Geschäften im Internet erforderlich – beispielsweise bei der Bestellung eines Strafregisterauszugs. Die E-ID ist das Puzzleteil, auf dem zahlreiche weitere digitale Dienste aufbauen – gerade auch im Sozialversicherungsbereich. Mit ihr werden medienbruchfreie Prozesse in der Verwaltung und bei Unternehmen ermöglicht. Das reduziert den Aufwand für Nutzende und für die Verwaltung deutlich.

Die E-ID-Vorlage kommt bald ins Parlament. Wie beurteilen Sie die Erfolgschancen?

Die Notwendigkeit und die Dringlichkeit einer staatlichen E-ID sind weitgehend unbestritten. Grundsätzlich ist die E-ID gut aufgegleist, indem sie die Nutzenden und die Sicherheit ins Zentrum stellt.

Welche weiteren Basisdienste sind für die Digitalisierung der Verwaltung wichtig?

Wichtig ist etwa der Authentifizierungsdienst der Schweizer Behörden Agov, der schon ab nächstem Jahr Bund, Kantonen und Gemeinden zur Verfügung stehen soll. Der Dienst unterstützt die Mehrfachnutzung von elektronischen Identitäten in der Schweiz und somit auch die zukünftige E-ID als Zugangsmittel. Er stellt einen ersten Schritt zur Nutzung der E-ID dar, die frühestens 2025 eingeführt wird. Mit Agov müssen nicht alle 26 Kantone ein eigenes Login-System aufbauen. Ein anderes Beispiel ist der Datenaustauschdienst Sedex des Bundesamts für Statistik, der seit rund 15 Jahren den sicheren Datenaustausch zwischen Organisationseinheiten ermöglicht.

Also doch zentrale statt dezentrale Lösungen?

Bei den Basisdiensten braucht es zentrale Lösungen. Es macht keinen Sinn, wenn ein Kanton für sich einen Sedex-Dienst aufbauen würde. Es ist wie bei der Eisenbahn: Die Schienen müssen normiert sein, damit die Züge fahren können. Wir unterstützen aber auch dezentrale Pilotprojekte.

«Bei den Basisdiensten braucht es zentrale Lösungen.»

Können Sie ein Beispiel machen?

Wir haben beispielsweise im Kanton Thurgau ein Pilotprojekt für einen Kultur- und Freizeitpass unterstützt, der auf dem E-ID-Ansatz basiert. Damit lassen sich Abos für Freibäder oder Museen einfacher abschliessen. Gleichzeitig können wir Erfahrungen für die künftige Nutzung der E-ID gewinnen.

Wie wichtig ist das Juristische bei der Digitalisierung der Verwaltung?

Sehr wichtig. Verwaltungshandeln heisst immer Handeln nach Gesetzen und Verordnungen. Weil die Digitalisierung die Verwaltung grundlegend verändert, braucht es oft neue Rechtsgrundlagen. Die Rechtsetzung muss den Rahmen für die digitalen Lösungen bilden.

Welche Bundesgesetze sind wichtig, um die Digitalisierung beim Bund voranzutreiben?

Bedeutend ist etwa das geplante Bundesgesetz über den Einsatz elektronischer Mittel zur Erfüllung von Behördenaufgaben (EMBAG). Es tritt voraussichtlich Anfang 2024 in Kraft. Weitere Schlüsselvorlagen sind das E-ID-Gesetz oder das Adressdienstgesetz. Daneben spielen auch die zahlreichen Spezialgesetze eine wichtige Rolle.

Was machen Sie persönlich, um diese Vorlagen voranzutreiben?

Als Beauftragter der Digitalen Verwaltung Schweiz koordiniere ich zwischen den involvierten Stellen. Gesetzgeberisch ist die Digitale Verwaltung Schweiz zurzeit nicht selber tätig.

Welche Rolle spielt der Datenschutz?

Das Vertrauen von Bevölkerung und Wirtschaft in die Verwaltung ist das höchste Gut. Die Bevölkerung muss sicher sein, dass der Staat die Personendaten schützt und Angebote datensparsam gestaltet. Dieses Vertrauen dürfen wir nicht verspielen.

«Das Vertrauen von Bevölkerung und Wirtschaft in die Verwaltung ist das höchste Gut.»

Die vor zwei Jahren festgestellten Sicherheitsmängel beim digitalen Impfbüchlein stellen somit ein Horrorszenario dar.

Der dadurch entstandene Imageschaden ist tatsächlich bedauerlich – denn so was bleibt in den Köpfen hängen. Um die Risiken zu minimieren, arbeiten die von uns unterstützten Projektteams eng mit Sicherheitsspezialisten und Datenschutzstellen von Bund und Kantonen zusammen.

Geht der Trend dahin, dass der Staat die wichtigen Projekte wieder selber an die Hand nimmt?

Ja. Bei der Basisinfrastruktur wie der E-ID, bei Sedex oder bei Agov hat der Staat die Verantwortung – das ist politisch so gewollt. Bei der Entwicklung dieser Anwendungen arbeiten wir jedoch mit privaten Firmen zusammen, denn auch diese verfügen über nötiges Know-how.

Die Digitale Verwaltung Schweiz unterstützt auch Projekte im Bereich der Sozialversicherungen. Können Sie ein Beispiel geben?

Wir unterstützen etwa ein Projekt der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren, das Sozialstatistiken für alle Staatsebenen zur Verfügung stellt. Denn gerade für Gemeinden sind Sozialstatistiken wichtig – so können sie etwa Trends frühzeitig erkennen und sich mit anderen Gemeinden vergleichen. Mit datenbasierten Entscheiden lassen sich die Qualität und die Transparenz im Sozialbereich verbessern.

Sie haben auch ein Projekt des Bundesamts für Sozialversicherungen unterstützt, das die Digitalisierung der ersten Säule vorantreiben will.

Ja. Ein Pilotprojekt untersucht, wie man die individuellen Konten der AHV für Versicherte digital besser zugänglich machen könnte. Mit dem unterstützten Proof-of-Concept wurde die technische Machbarkeit abgeklärt. Nun sind Schnittstellen zwischen dem Bund und den Ausgleichskassen nötig.

Die Verwaltung ist mit zahlreichen Portalen im Internet präsent. Wäre allenfalls ein einziges zentrales Portal sinnvoll?

Der Trend geht in Richtung einer Konsolidierung – auch wegen des Logins. Auf Bundesebene bietet beispielsweise das Unternehmensportal Easygov.swiss immer mehr Dienste für Unternehmen an – auch im Bereich der Sozialversicherungen. Wir bauen aber im Moment keine zentralen Portale für alle Belange auf. Vielmehr wollen wir die Menschen dort abholen, wo sie nach Informationen suchen. Zielführender scheint es, die bestehenden Angebote miteinander zu verknüpfen.

Ein grosses Thema ist die künstliche Intelligenz. Wie beschäftigt sich die Digitale Verwaltung Schweiz damit?

Im öffentlichen Sektor gibt es schon länger KI-Anwendungen. Ein Beispiel ist ein Chatbot im Kanton St. Gallen, der Fragen zum Handelsregister beantwortet. Derzeit nehmen die Angebote sprunghaft zu. So beantwortet der Kanton Tessin etwa Support-Anfragen mit künstlicher Intelligenz, und der Kanton Zürich sortiert in einem KI-Pilotprojekt Parlamentsanfragen. Beim Einsatz der KI stellen sich zahlreiche Fragen – unter anderem zum Datenschutz. Wir überlegen uns daher, eine staatsebenenübergreifende Arbeitsgruppe zu künstlicher Intelligenz zu bilden.

Kritische Stimmen sagen, die Digitalisierung gefährde die Inklusion: Gerade für Ältere oder für Menschen mit Behinderungen sind Inhalte im Internet nicht immer zugänglich.

Zugänglichkeit ist entscheidend. Wir dürfen niemanden zurücklassen. Darauf achten wir bei all unseren Projekten. Wer Mühe hat, einen Text zu verstehen, der schätzt beispielsweise Formulierungen in einfacher Sprache. Barrierefreie digitale Angebote fördern das selbstbestimmte Handeln und können zusätzliche Mitwirkungsmöglichkeiten bieten.

Wir führen dieses Gespräch im Haus der Kantone. In diesem Gebäude entwickelte Albert Einstein vor über hundert Jahren die spezielle Relativitätstheorie. Wie inspiriert Sie das als ausgebildeter Physiker?

Indirekt bin ich sicher inspiriert: Einsteins Theorie warf die Grundsätze der Physik über den Haufen – dasselbe geschah später mit der Quantenphysik. Diesen Kulturschock sehen wir auch heute mit der Digitalisierung: Die Zusammenarbeit in der Verwaltung hat sich fundamental verändert. Früher war ein Büro von Akten geprägt – heute reicht ein Computer mit Internetverbindung. Zudem öffnet sich die Verwaltung immer stärker für die Bevölkerung.

Peppino Giarritta und die Digitale Verwaltung Schweiz

Foto: BSV / Marcel Giebisch

Peppino Giarritta ist Beauftragter von Bund und Kantonen für die Zusammenarbeitsorganisation Digitale Verwaltung Schweiz. Zuvor leitete der promovierte Physiker die Digitalisierungsabteilung des Kantons Zürich. Die Digitale Verwaltung Schweiz ging 2022 aus «E-Government Schweiz» und der «Schweizerischen Informatikkonferenz» hervor. Die Organisation wird gemeinsam von Bund und Kantonen getragen und will die digitale Transformation in Bund, Kantonen und Gemeinden beschleunigen.

Chefredaktor, Soziale Sicherheit (CHSS)
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