Familie und Beruf: Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Viele Familien in der Schweiz können sich Erwerbs- und Familienarbeit nicht so aufteilen, wie sie es gerne möchten. Dies hat unter anderem mit Wertvorstellungen zu tun.
Anna Hotz, Jasmin Gisiger, Stephanie Bade
  |  20. Februar 2024
    Forschung und Statistik
  • Familie
Bei der Aufteilung von Familien- und Erwerbsarbeit spielen Werthaltungen eine Rolle. (Keystone)

Auf einen Blick

  • Eine höhere Erwerbsbeteiligung von Müttern wirkt dem Fachkräftemangel entgegen.
  • Gesellschaftliche Werthaltungen beeinflussen die Aufteilung von Familien- und Erwerbsarbeit.
  • Massnahmen, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern, sind die vermehrte Möglichkeit zu und Akzeptanz von Teilzeitarbeit, die Einführung einer Elternzeit und attraktive Kinderbetreuungsstrukturen.

In vielen Branchen in der Schweiz herrscht Arbeits- und Fachkräftemangel: Ende 2022 waren über 120 000 Stellen unbesetzt – doppelt so viele als im Durchschnitt der Jahre 2009 bis 2018 (BFS 2022a). Der Mangel ist einerseits konjunkturell bedingt, andererseits ist er aber auch durch die demografische Alterung getrieben und dürfte sich in den kommenden Jahren weiter verschärfen.

Gesenkt werden kann der Arbeits- und Fachkräftemangel unter anderem, indem die Erwerbsbeteiligung gestärkt wird. Dies scheint besonders relevant, damit gesellschaftlich wichtige Leistungen wie Pflege, Bildung und öffentliche Sicherheit auch künftig gewährleistet bleiben.

Ein grosses Potenzial besteht gemäss der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung bei den Frauen: Frauen arbeiten in der Schweiz häufiger als Männer in einem tiefen Teilzeitpensum oder befinden sich nicht im Erwerbsprozess (BFS 2022b). Wenn ein Teil dieser Gruppe ein Arbeitspensum von 50 Prozent aufnehmen würde, stünden dem Arbeitsmarkt rund 140 000 zusätzliche Vollzeitäquivalente zur Verfügung; dabei wurde davon ausgegangen, dass – wie bei den Männern – weiterhin 5 Prozent nicht erwerbstätig sind und 3 Prozent in einem Pensum von unter 50 Prozent arbeiten (vgl. Hotz et al. 2024: 89).

Auch wenn Qualifikationen und Berufsfelder hier nicht berücksichtigt werden, verdeutlicht die Relation zwischen dem Mangel von 120 000 nicht besetzten Stellen und den potenziell verfügbaren 140 000 Vollzeitäquivalenten, dass eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen einen relevanten Beitrag zur Linderung des Arbeits- und Fachkräftemangels leisten könnte.

Höhere Erwerbsbeteiligung zahlt sich aus

Darüber hinaus bringt eine höhere Erwerbstätigkeit von Frauen weitere ökonomische Vorteile: Sie erhöht die durchschnittlichen Altersrenten für Frauen und vermag so den sogenannten Gender Pension Gap – den prozentualen Unterschied der Altersrenten zwischen den Geschlechtern – zu reduzieren. Zudem lässt sich die «Bildungsrendite» von hochqualifizierten Frauen besser ausschöpfen. Und schliesslich bedeutet ein eigener oder höherer Erwerbslohn tendenziell auch eine grössere finanzielle Unabhängigkeit und senkt das Armutsrisiko.

Ein Grossteil der Unterschiede im Umfang der Erwerbstätigkeit zwischen Männern und Frauen lässt sich auf die Familiengründung zurückführen (Bischof et al. 2023). Eine optimale Ausgestaltung der Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit birgt somit das Potenzial, die Frauenerwerbstätigkeit zu erhöhen. Hierfür gilt es zu klären, was die Treiber der Unterschiede in der Erwerbstätigkeit zwischen Vätern und Müttern sind: Liegt es an den Rahmenbedingungen, den Werthaltungen oder persönlichen Einstellungen?

Traditionelles Rollenverständnis

In der Schweiz ist das traditionelle Familienbild gesellschaftlich weiterhin stark verankert: In einer repräsentativen Umfrage im Jahr 2018 stimmten rund ein Viertel der Frauen und ein Drittel der Männer der Aussage «ein Kind im Vorschulalter leidet unter der Erwerbstätigkeit seiner Mutter» zu (BFS 2018). Auf der anderen Seite bezeichnet fast die Hälfte der 25- bis 54-jährigen Eltern mit einem Kind unter 4 Jahren im Haushalt das Familienmodell, in dem beide Teilzeit arbeiten, als ihr bevorzugtes Modell (BFS 2021).

Doch widerspiegeln sich diese in Umfragen geäusserten Präferenzen der Menschen auch in ihren Lebensrealitäten? Ein Ländervergleich (Kleven et al. 2019) zeigt: Werthaltungen manifestieren sich in der gelebten Aufteilung von Familien- und Erwerbsarbeit. In wertkonservativen Ländern wie Österreich, Deutschland oder der Schweiz, wo die Zustimmungsrate zur Aussage «ein Kind im Vorschulalter leidet unter der Erwerbstätigkeit der Mutter» gross ist, ist auch der prozentuale durchschnittliche Einkommenseinbruch bei Frauen durch die Familiengründung gross. In progressiven Ländern wie Dänemark oder Schweden ist dieser Effekt deutlich kleiner.

Als Erklärung sind verschiedene Mechanismen denkbar. So dürften sich gesellschaftliche Werthaltungen, persönliche Einstellungen, die gelebte Aufteilung von Familien- und Erwerbsarbeit sowie die Ausgestaltung der Rahmenbedingungen in einem komplexen Wechselspiel gegenseitig beeinflussen.

In Bezug auf die Schweiz sticht die Diskrepanz zwischen den Idealvorstellungen bezüglich der Aufteilung von Familien- und Erwerbsarbeit und ihrer Realität ins Auge. Eine Untersuchung (BFS 2021) zeigt, dass zwar das Modell, wonach beide Elternteile Teilzeit arbeiten, am häufigsten als Idealfall betrachtet wird, das am häufigsten gelebte Modell jedoch «Vater Vollzeit, Mutter Teilzeit» ist. Auch hier stellt sich die Frage nach den Gründen. Die Vermutung liegt nahe, dass es für Eltern schwierig ist, ihre Idealvorstellungen zu leben – und somit die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für viele Familien nicht so möglich ist, wie sie sich dies eigentlich wünschen.

Verbesserungsmassnahmen formuliert

In Interviews haben wir Interessensvertretungen wie den Dachverband Schweizer Jugendparlamente, den Thinktank Avenir Suisse, die Gewerkschaft Unia oder die Schweizer Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf befragt (Hotz et al. 2023). Ein besonderes Augenmerk galt dabei Vertreterinnen und Vertretern der jüngeren Generation.

Die Mehrheit der Befragten bezeichnet die Vereinbarkeit von Familie und Beruf als ungenügend und verbesserungswürdig. Häufig genannt werden folgende Verbesserungsvorschläge, die sich an Staat, Wirtschaft und Individuen richten:

  • Vermehrte Möglichkeit zu und Akzeptanz von Teilzeitarbeit bei Männern und in Führungsfunktionen
  • Einführung einer Elternzeit
  • Gut ausgebaute und bezahlbare Kinderbetreuungsstrukturen

Ob sich diese Massnahmen in einer höheren Erwerbstätigkeit von Müttern niederschlagen, kann zwar nicht abschliessend beantwortet, aber aufgrund der dargelegten Erkenntnisse sehr wahrscheinlich bejaht werden. Zwar dürften die in der Schweiz noch immer vergleichsweise stark verankerten Rollenbilder, wonach die Mutter hauptsächlich für Care- und der Vater für die Erwerbsarbeit zuständig ist, sowohl persönliche Einstellungen als auch die Möglichkeiten für Teilzeitbeschäftigung von Frauen und Männern prägen. Trotzdem können zusätzlichen Kinderbetreuungsstrukturen und einer längeren Elternzeit (insbesondere für Väter/Partnerinnen) das Potenzial zugeschrieben werden, Anreize für eine erhöhte Erwerbsarbeit (vor allem von Müttern) zu setzen.

Literaturverzeichnis

BFS (2018). Erhebung zu Familien und Generationen.

BFS (2021). Familien in der Schweiz. Statistischer Bericht 2021.

BFS (2022a). Beschäftigungsstatistik (BESTA), Anzahl der offenen Stellen.

BFS (2022b). Schweizerische Arbeitskräfteerhebung (SAKE) Erwerbssituation nach Geschlecht und Familiensituation.

Bischof, Severin; Kaderli, Tabea; Guggisberg, Jürg; Liechti, Lena (2023). Wirtschaftliche Situation von Familien: Geburt als Weichenstellung. In: Soziale Sicherheit CHSS, 24. Februar.

Hotz, Anna; Gisiger Jasmin; Bade, Stephanie (2023). Vereinbarkeit von Familie & Beruf – wie das Arbeitskräftepotenzial und gesellschaftliche Werte damit zusammenhängen. In:  EKFF (Hrsg.). Familien und Familienpolitik in der Schweiz — Herausforderungen im Jahr 2040, Beitrag im Auftrag der EKFF, 5. Dezember. 79–102.

Kleven, Henrik, Landais; Camille, Posch, Johanna; Steinhauer, Andreas; and Zweimüller, Josef (2019). Child penalties across countries: Evidence and explanations. American Economic Association Papers and Proceedings, 109:122–126.

Dieser Text basiert auf dem Beitrag «Vereinbarkeit von Familie & Beruf – wie das Arbeitskräftepotenzial und gesellschaftliche Werte damit zusammenhängen», der am 5. Dezember 2023 in der EKFF-Sammelpublikation Familien und Familienpolitik in der Schweiz — Herausforderungen im Jahr 2040 erschienen ist.

Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Econcept
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Projektleiterin, Econcept, Zürich
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Senior Projektleiterin, Econcept
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