Auf einen Blick
- Bildungsangebote für Erwachsene sollten die Bedürfnisse und Sichtweise von Armutsbetroffenen stärker berücksichtigen.
- Für Armutsbetroffene ist es mit grossen Hürden verbunden, eine Aus- oder Weiterbildung zu absolvieren.
- Sinnvoll wären unter anderem eine bedarfsgerechtere Finanzierung, eine bessere Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Bildung, eine weitere Stärkung alternativer Bildungswege sowie niederschwelligere Zugänge zu Informationen und professioneller Beratung und Begleitung.
Personen mit kleinem Bildungsrucksack sind häufiger von Erwerbslosigkeit und von Armut betroffen als gut Gebildete – gleichzeitig nutzen sie seltener (Weiter-)Bildungsangebote als besser Qualifizierte (OECD 2021). In unserer komplexen, globalisierten und hoch dynamischen Gesellschaft ist dieser Befund in vielerlei Hinsicht relevant. Er betrifft Fragen individueller Handlungsspielräume und gesellschaftlicher Ungleichheit ebenso wie die Frage, ob und wie es gelingt, dem aktuellen Fachkräftemangel durch vermehrte Qualifizierungsmassnahmen wirksam entgegentreten zu können.
Der erschwerte Bildungszugang von gering qualifizierten, armutsbetroffenen Personen gewinnt vor diesem Hintergrund zunehmend Aufmerksamkeit, dies sowohl in der Forschung als auch im Rahmen (bildungs-)politischer Massnahmen und Initiativen. Die Sichtweise und die Erfahrungen der Betroffenen selbst werden dabei allerdings selten ins Zentrum gerückt. An dieser Lücke setzt eine Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) an, die in Kooperation mit der Haute école de travail social (HETS) und der Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana (SUPSI) im Auftrag der Nationalen Plattform gegen Armut durchgeführt wurde (Mey et al. 2022).
Sicht der Direktbetroffenen
Ziel der Untersuchung ist es, ein besseres Verständnis der Lebenswelten von gering qualifizierten Personen zu erhalten, die von Armut betroffen sind: Welche Faktoren erschweren den Bildungszugang? Wie könnte der Bildungszugang verbessert werden?
Zwischen Oktober 2021 und Januar 2022 wurden ausführliche Interviews mit 80 armutsbetroffenen und -gefährdeten, gering qualifizierten Personen in der deutschen, französischen und italienischen Sprachregion der Schweiz geführt. Hinzu kamen Einzel- und Fokusgruppeninterviews mit 57 Expertinnen und Experten aus dem Sozial- und Bildungsbereich und aus selbstorganisierten Kollektiven sowie Literaturrecherchen und ergänzende statistische Analysen des Schweizerischen Haushaltspanels.
Angesichts der Heterogenität der Zielgruppe fokussiert die Studie auf fünf Konstellationen von Armutsbetroffenen:
- Junge Erwachsene ohne nachhaltigen Berufseinstieg
- Alleinerziehende
- Migrationsfamilien als Angestellte im Niedriglohnbereich
- Erwerbslose über 50-Jährige
- Selbstständigerwerbende
Der Zugang zu den Befragten erfolgte über Fachpersonen im Bildungs- und Sozialbereich sowie über niederschwellige Treffpunkte unter Wahrung höchster Vertraulichkeit im Umgang mit den gelieferten Daten.
Die Analyse der Interviews zeigt detailliert auf, wie vielfältig die Faktoren des erschwerten Bildungszugangs in den analysierten Lebens- und Problemlagen und den biographischen Verläufen sind. Gleichzeitig macht sie deutlich, wie machtvoll gesellschaftliche (Ungleichheits-)Bedingungen in den untersuchten Verläufen wirken, und wie sehr diese die individuellen Handlungsspielräume einengen. Im Rahmen der fallübergreifenden Auswertung wurde deshalb ein Modell erarbeitet, das die wesentlichen Phänomene und Zusammenhänge in ihrem Zusammenspiel und in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit aufzeigt (vgl. Mey et al. 2022: 61ff). Dabei wird verdeutlicht, wie nebst der grundlegenden Armutssituation und entsprechenden finanziellen Not oder Knappheit weitere Faktoren die individuellen Prioritätensetzungen und Strategien in Bezug auf Bildung beeinflussen (siehe Abbildung):
- Situative Faktoren: gesellschaftlich bedingte Belastungen aufgrund der Lebenssituation – wie beispielsweise alleinerziehend oder über 50-jährig.
- Dispositionale Faktoren: biografisch bedingte Einstellungen gegenüber Bildung – wie Selbstzweifel wegen schlechter Schulerfahrungen oder die Präferenz, in der Praxis zu lernen.
- Strukturelle Faktoren: tiefliegende Strukturen sozialer Ungleichheit und Benachteiligung – wie ein fehlendes Angebot an ausserfamiliärer Kinderbetreuung oder höhere Lohnkosten infolge der teureren zweiten Säule ab 50 Jahren.
- Institutionelle Faktoren: eingeschränkter Zugang zu Beratung und finanziellem Support – wie die Ausgestaltung der Arbeitslosenversicherung oder die Zugangsbedingungen für den Bezug von Sozialhilfeleistungen.
Faktoren mit Einfluss auf Prioritäten und Strategien in Bezug auf Bildung
Erschwerte Zugänge und Mehrfachbelastungen
Angesichts der Herausforderungen, denen sich die armutsbetroffenen oder -gefährdeten Personen tagtäglich stellen müssen, wird Bildung oft gar nicht zum Thema. Und wenn ein Bildungswunsch vorhanden ist, gestaltet sich die konsequente Verfolgung des Ziels als äusserst anspruchsvoll. Im Zusammenspiel der genannten Faktoren lassen sich mehrere relevante Problematiken identifizieren: Als entscheidend für die geringe Bildungsbeteiligung erweisen sich die finanzielle Knappheit und Not in Kombination mit versperrten Zugängen zu (finanzierter) Bildung und Beratung. Bei nicht vorhandener finanzieller Absicherung in Folge fehlendem Anspruch oder bewusst nicht bezogener Sozialhilfe verschärft sich die Situation zusätzlich: Zur finanziellen Knappheit kommen, auch aufgrund der armutsbedingten langjährigen Überlastung, in manchen Fällen Mehrfachbelastungen im familiären und gesundheitlichen Bereich hinzu, oft auch in Kombination mit einer belastenden Wohnsituation. Hier zeigen sich die Herausforderungen und Sorgen in der Alltagsgestaltung manchmal als derart erdrückend, dass Bildung nur dann eine Chance hätte, in den Fokus gerückt zu werden, wenn im Rahmen einer entsprechenden Begleitung eine deutliche Entlastung erreicht werden könnte. Kann dem in diesen Situationen oft dominanten Bedürfnis nach «Ruhe» nicht entsprochen werden, so treten in den analysierten Fällen zunehmend gesundheitliche und psychische Probleme auf. Schliesslich sind nebst den bereits genannten Problematiken auch schulische Lücken oder Ängste und Vorbehalte in Bezug auf schulisches Lernen beobachtbar, die den Zugang zu Bildung erschweren können. Ängste oder Vorbehalte in Bezug auf Bildung zeigen sich nach schulischen Misserfolgen, nach längeren Phasen der Erwerbslosigkeit oder dann als Folge einer schon früh entwickelten Priorisierung auf praktisches Tun. Nur in ganz wenigen Fällen gelingt in diesem Kontext der Zugang zu passenden und Perspektiven eröffnenden Bildungsangeboten.
Im Spannungsfeld von Bildungswunsch und Existenzdruck
Insgesamt wird deutlich: Bildungspläne und -wünsche haben, wo sie vorhanden sind, in armutsbetroffenen Situationen einen schweren Stand. Meist stehen sie in Konkurrenz zu anderen, ebenfalls zentralen Bedürfnissen und Notwendigkeiten wie dem erwähnten Druck zur Existenzsicherung oder dem Bedürfnis nach Ruhe. Dass der hohe Druck zu eigenständiger Existenzsicherung dazu führen kann, eher auf berufliche Stabilität als auf Bildung zu setzen, wurde auch in anderen Studien beobachtet (etwa Nadai et al. 2021).
Für Armutsbetroffene ist es schwierig, die unterschiedlichen Bedürfnisse und Zwänge in ein Gleichgewicht zu bringen. Oftmals hegen sie ausgeprägte Bildungswünsche, die sie trotz Existenzdruck zu realisieren versuchen – ohne auf eine passende Unterstützung zurückgreifen zu können. Typischerweise ist dies oft bei bildungsorientierten Personen mit Migrationshintergrund der Fall: Da beim Eintritt in den Arbeitsmarkt ein formaler Abschluss fehlt – oder nicht anerkannt wird – sind sie auf hohe Pensen im Niedriglohnbereich angewiesen, sodass die nötigen Mittel und Freiräume für Bildung gänzlich fehlen.
Auch bei manchen jungen Erwachsenen oder jungen Eltern verengen sich die Handlungsspielräume nach längeren Phasen ohne nachhaltigen Berufseinstieg zunehmend, bis nur noch der Fokus auf Existenzsicherung bleibt. Unter anderem scheitert der Zugang zu einer Ausbildung aus folgenden Gründen:
Es mangelt grundsätzlich an einer institutionellen Anbindung, womit auch der Zugang zu bildungsrelevanter Information und Begleitung fehlt.
Wenn eine Begleitung vorhanden ist (z. B. durch den Sozialdienst), wird auf eine rasche Arbeitsintegration fokussiert.
Der Anspruch auf eine Finanzierung der Ausbildung fehlt (etwa im Zusammenhang mit dem Status F oder nach bereits abgeschlossener Erstausbildung).
Es ist kein passendes Angebot vorhanden (zum Beispiel eine Teilzeitlehre für eine alleinerziehende Mutter).
Wege zu einem besseren Bildungszugang
Die Interviewten setzen im Spannungsfeld von Bildungswunsch und Existenzsicherung oft auf kreative Lösungen jenseits staatlicher Angebote und beweisen ein grosses Durchhaltevermögen. So erschliessen sich einzelne beispielsweise zusätzliche Finanzquellen, indem sie ein Zimmer vermieten oder Nachbarschaftsdienste gegen Bezahlung ausführen. Andere aktivieren soziale Netzwerke sowie Kontakte zu Nichtregierungsorganisationen und Kirchen. Wiederum andere ziehen in eine Gemeinde, in der sie sich besseren Support beim Realisieren der eigenen Ziele erhoffen, oder sie konzentrieren sich darauf, informell und selbstorganisiert zu lernen.
Wie lässt sich der Bildungszugang für Armutsbetroffene verbessern? Die Studie formuliert mehrere Empfehlungen, die sich explizit an alle in der Verantwortung stehenden Akteure richten: Bund, Kantone und Gemeinden, Anbietende von Bildungsangeboten, Arbeitgebende, Organisationen der Arbeitswelt, Nichtregierungsorganisationen und Kirchen. Die Empfehlungen beziehen sich auf die identifizierten Hauptproblematiken und berücksichtigen die laufenden bildungs- und sozialpolitischen Entwicklungen, zum Beispiel im Bereich der Grundkomptenzenförderung oder der Stärkung des Berufsabschlusses für Erwachsene.
Damit Personen in finanzieller Not eine Aus- oder Weiterbildung machen, gilt es, mehr und verbesserte Finanzierungsmöglichkeiten zu schaffen. Strukturen und Angebote sollten zudem besser auf die Vereinbarkeit von Arbeit, Bildung und Betreuung ausgerichtet werden. Ausserdem müssten nonformale, informelle oder im Ausland erworbene Bildung einfacher anerkennt werden. Weiter gilt es, Arbeitgebende stärker einzubinden. Darüber hinaus sollten niederschwellige, von der Sozialhilfe unabhängige professionelle Informationsangebote bereitstehen. Beratung und Begleitung sollten interinstitutionell koordiniert und Angebote vermehrt als Module angeboten werden.
Grundsätzlich empfiehlt sich eine armutsbewusste und armutssensible Perspektive auf Bildung und Bildungsförderung. Dies ist entscheidend, um Massnahmen zur Verbesserung des Bildungszugangs besser an der Lebensrealität der Betroffenen auszurichten und Armutsbetroffene individuell auf ihrem Bildungsweg zu unterstützen.
Literaturverzeichnis
Mey, Eva; Brüesch, Nina; Meier, Gisela; Vanini, Alina; Chimienti, Milena; Lucas, Barbara; Marques, Marta (2022). Förderung der Qualifizierung Erwachsener: armutsgefährdete und -betroffene Personen in ihren Lebenswelten erreichen. Studie im Auftrag des BSV. Beiträge zur Sozialen Sicherheit. Forschungsbericht Nr. 14/22.
Nadai, Eva; Gonon, Anna; Hübscher, Robin; John, Anna (2021). Dynamiken von Beschäftigungsfähigkeit – Erwerbsverläufe von gering qualifizierten Arbeitskräften. Bern: ZSR (67)3. 183–210.
OECD (2021). Continuing Education and Training in Germany. Getting Skills Right. Paris: OECD Publishing.