Digitalisierung der Sozialversicherungen: Europäischer Datenaustausch nimmt Fahrt auf

Die europäischen Länder teilen immer mehr Sozialversicherungsinformationen über das digitale System EESSI. Auch die Schweiz ist dabei.
Silvia Pittavini, Sébastien Demierre
  |  26. Juni 2023
    Recht und Politik
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In der Schweiz ermöglichen Applikationen wie ALPS den elektronischen Datenaustausch – etwa für Selbstständigerwerbende. (Alamy)

Auf einen Blick

  • Fast 3400 Sozialversicherungsträger in Europa tauschen über das System EESSI grenzüberschreitend Daten in elektronischer Form aus.
  • Die Schweiz hat Applikationen (wie beispielsweise ALPS) entwickelt, die den Datenaustausch ermöglichen.
  • Damit der europäische Datenaustausch auch in Zukunft funktioniert, besteht ein grosser Weiterentwicklungsbedarf.

Der elektronische Datenaustausch ist in den europäischen Verordnungen zur Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit geregelt. Auch die Schweiz wendet die betreffenden Verordnungen für den Datenaustausch mit der Europäischen Union (EU) und der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) an. Ausserdem ist der elektronische Datenaustausch Teil der Koordinierungsbestimmungen zwischen diesen Ländern und dem Vereinigten Königreich.

Eine wichtige Rolle spielt das europäische EESSI-System (Electronic Exchange of Social Security Information), an dem sich die Schweiz seit 2019 beteiligt: Es ermöglicht einen grenzübergreifenden, schnellen und sicheren elektronischen Datenaustausch zwischen den Sozialversicherungsträgern. Die erfolgreiche Anbindung der Schweiz an das EESSI-System ist das Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen dem Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV), dem Bundesamt für Gesundheit (BAG), dem Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO), der zentralen Ausgleichsstelle (ZAS) und dem Bundesamt für Informatik (BIT).

EESSI: Ein Mammutprojekt

Im Jahr 2017 führte die Europäische Kommission mit Electronic Exchange of Social Security Information (EESSI) eine digitale Plattform für den elektronischen Datenaustausch ein, an der heute fast 3400 europäische Sozialversicherungsträger der Kranken-, Renten-, Unfall- und Arbeitslosenversicherungen sowie der Familienleistungen mitwirken. EESSI ermöglicht den Wechsel vom physischen (z. B. Postversand von Formularen) zum elektronischen Austausch. Nebst den EU-Mitgliedstaaten beteiligten sich auch die Schweiz, Island, Liechtenstein und Norwegen (EFTA-Mitgliedstaaten) sowie das Vereinigte Königreich an diesem Projekt.

Das EESSI-System besteht aus einem sicheren internationalen Netzwerk (TESTA), einem Trägerverzeichnis (IR), nationalen Zugangspunkten und einer von der Europäischen Kommission entwickelten Referenzanwendung (RINA) sowie aus 99 elektronischen Geschäftsprozessen (Business Use Cases) und 304 elektronischen Formularen (Structured Electronic Document, SED).

Implementierung von EESSI

Nachdem die Entwicklung von EESSI immer wieder verschoben wurde und sich um mehrere Jahre verzögerte, mussten die am Projekt beteiligten Länder zunächst nationale Zugangspunkte und eine gesicherte Infrastruktur einrichten. Danach konnte der Versand der elektronischen Formulare aufgenommen werden: Das erste elektronische Formular wurde im Januar 2019 verschickt. Zwei Jahre später war das Projekt offiziell abgeschlossen. In dieser heiklen Phase stand eine Reihe von Aufgaben an: Arbeiten zwischen den Staaten planen und koordinieren, die Träger anbinden, die Benutzerinnen und Benutzer schulen, das sich ständig weiterentwickelnde System, dessen Stabilität und Performanz immer wieder in Frage gestellt wurden, regelmässig testen und gleichzeitig die von der Europäischen Kommission bereitgestellten RINA-Updates integrieren.

Alles in allem schreitet die Implementierung in den 32 teilnehmenden Ländern kontinuierlich voran und wird voraussichtlich im Jahr 2025 abgeschlossen. In einem Drittel der teilnehmenden Länder sind die 99 Geschäftsprozesse (Business Use Cases) bereits in Betrieb, die anderen, darunter die Schweiz, warten noch auf ein grösseres Update, bevor sie die nationalen Projekte abschliessen.

Die Umsetzung des EESSI-Projekts koordiniert die Schweiz im Rahmen des Programms SNAP-EESSI. Dieses war zunächst ein Schlüsselprojekt des Bundesrates im Bereich Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), nun ist es ein IKT-Schlüsselprojekt des Eidgenössischen Departements des Innern (EDI).

Im Jahr 2022 wurden zwischen den teilnehmenden Staaten insgesamt 24 Millionen EESSI-Nachrichten versendet und etwa gleich viele empfangen. Die Schweiz übermittelte rund 950 000 Nachrichten. Über die Hälfte der Datentransfers zwischen den teilnehmenden Staaten im Jahr 2022 betrafen die Versicherungsunterstellung (Bestimmung des für die Sozialversicherungen zuständigen Staates; vorübergehende Entsendungen), dahinter folgen mit deutlichem Abstand die Bereiche Krankenversicherung und Renten.

Nationale Applikationen

Ebenso wie viele andere Länder ging auch die Schweiz mit Vorsicht und Pragmatismus an den EESSI-Austausch heran. Eine Vorreiterrolle nahmen das SECO und die Arbeitslosenkassen mit zwei Geschäftsprozessen sowie das BSV und die AHV-Ausgleichskassen mit einem Geschäftsprozess ein. Innerhalb der Schweiz wurden hierfür zwei unterschiedliche Applikationen verwendet: die Webapplikation RINA für das SECO und eine vom BSV entwickelte Applikation für Fragen zur Versicherungsunterstellung (Applicable Legislation Platform Switzerland, ALPS).

Die Schweizer Durchführungsstellen können entweder über die von der Europäischen Kommission entwickelte Webapplikation RINA auf EESSI zugreifen oder ihre eigene Fachanwendung über eine Schnittstelle verbinden. RINA ist auf Träger mit geringem Austauschvolumen ausgerichtet und erspart ihnen hohe Investitionskosten. Für ein grosses Austauschvolumen eignet sich RINA indes nicht. Dafür wird eine eigene Applikation empfohlen beziehungsweise ist eine eigene Applikation sogar erforderlich. Nachdem die Europäische Kommission entschieden hatte, Betrieb und Wartung von RINA an die teilnehmenden Länder zu übertragen, ist die Schweiz nun selbst für diese Aufgabe zuständig und kann die Applikation rascher und bedarfsgerecht anpassen. Die meisten anderen Länder führten eine gemeinsame öffentliche Ausschreibung durch, um einen neuen Anbieter mit dieser Aufgabe zu betrauen.

In der Schweiz können mittlerweile rund 80 Prozent aller ein- und ausgehenden Datenübermittlungen über die Applikation ALPS abgewickelt werden. Diese Anwendung wird von Arbeitgebenden, Selbstständigerwerbenden, AHV-Ausgleichskassen und dem BSV verwendet. Im Januar 2023 wurde ausserdem eine Applikation für die Renten der ersten Säule eingeführt, die ab dem Frühjahr 2024 voll betriebsfähig sein wird. Sie ist für die AHV-Ausgleichskassen, IV-Stellen und die ZAS bestimmt. Krankenkassen, Unfallversicherer, Familienausgleichskassen, BVG-Sicherheitsfonds, RAV, Arbeitslosenkassen und SECO arbeiten hingegen mit RINA. Einige Bereiche ziehen jedoch die Migration zu einer integrierten Lösung in Betracht.

Finanzierung

Die EESSI-Infrastruktur soll den Durchführungsstellen der verschiedenen Sozialversicherungszweige ermöglichen, das operative Geschäft sicherzustellen. Mit dem Betrieb der Infrastruktur hat das BSV das Bundesamt für Informatik und Telekommunikation (BIT) betraut.

Hierbei fallen insbesondere Kosten für die Zugangspunkte, den Betrieb des Rechenzentrums und der Server sowie für Softwarelizenzen, Wartung und technischen Support an. Hinzu kommen Auslagen für den zentralen Fachbetrieb: Das BSV stellt den Benutzersupport und die Benutzerverwaltung sowie das Servicemanagement und die Kommunikation mit der EU sicher. Gleichzeitig mit der Einführung der Infrastruktur musste deshalb eine Finanzierungslösung gefunden werden. Dazu wurde das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) angepasst.

Da nicht alle Sozialversicherungszweige über einen Fonds verfügen, war ein Fonds als Finanzierungsvariante keine Option. Der neu eingeführte Artikel 75c ATSG legt fest, dass die Infrastruktur für den elektronischen Datenaustausch durch Gebühren der Sozialversicherungsträger finanziert werden soll, wobei der Umfang der Benutzung berücksichtigt wird. Den Nutzungsumfang auf die Anzahl übermittelter Nachrichten oder das Datenvolumen abzustellen, wäre jedoch mit unverhältnismässigen Mehrkosten verbunden. Deshalb wurde beschlossen, für den Verteilschlüssel auf die Anzahl Nutzer abzustellen.

Grundkosten, die nicht von der tatsächlichen Benutzung der Infrastruktur abhängen, werden zwischen allen Sozialversicherungszweigen aufgeteilt. Diese Lösung bietet zwar den Vorteil, dass sie eine verursachergerechte Finanzierung erlaubt, ist aber auch mit grossem administrativem Aufwand verbunden.

Wie sieht die Zukunft aus?

Die Europäische Kommission hat eine umfassende Optimierung des elektronischen Datenaustausches angekündigt, wobei Prozesse und Architektur komplett überarbeitet werden sollen. Dazu müssen nicht nur neue Prozesse, sondern auch ein neues gemeinsames Datenmodell, neue Tests zu Konformität und Prozessinteroperabilität sowie eine neue Architektur für die Kommunikation (Automatisierung) und die Sicherheit definiert und umgesetzt werden. Zudem müssen in allen Sozialversicherungszweigen für die jeweiligen schweizerischen Träger neue Prozesse analysiert und implementiert werden.

Diese Modernisierung setzt Arbeiten in einem ähnlichen Umfang wie beim ursprünglichen europäischen EESSI-Projekt voraus. Der elektronische Datenaustausch dürfte auch in Zukunft immer wieder modernisiert werden müssen, damit das System auf dem neusten Stand bleibt und an neue Technologien angepasst werden kann.

Juristin, Internationale 
Angelegenheiten, Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
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Fachspezialist, Internationale Angelegenheiten, Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV)
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